Am Internationalen Hurentag fordern Sexarbeiter:innen von der neuen Koalition: „Zeigt uns eure Daten, und wir zeigen euch unsere.“
Seit Beginn der Evaluierung des Gesetzes, das unsere Berufe und Körper regiert (Prostituiertenschutzgesetz), haben Sexarbeiter:innen nervös auf Nachrichten über die Absichten der neuen Regierung gewartet.
Das Warten endete im April.
Im Koalitionsvertrag steht:
„Deutschland ist zu einer Drehscheibe für Menschenhandel geworden. Die Opfer sind fast ausnahmslos Frauen.“[1]„Angesichts der Evaluierung des Prostituiertenschutzgesetzes werden wir bei Bedarf Verbesserungen mit Unterstützung einer unabhängigen Expertenkommission vornehmen.“ (Zeilen 3276-9)
Zum Internationalen Hurentag haben wir ein paar Dinge, die wir klarstellen möchten.
Wir sind zutiefst erleichtert, dass die Koalition auf die Daten wartet, bevor sie politische Entscheidungen trifft, anstatt – wie wir befürchteten – eine klare Absicht zur Einführung des Nordischen Modells in Deutschland zu äußern, wie viele von uns befürchtet hatten. Es ist auch ein ausgezeichnetes Zeichen, dass „Expert*innen“ beauftragt werden, die Daten zu interpretieren und etwaige als angemessen erachtete Änderungen am Gesetz auszuarbeiten. Wir hoffen und gehen davon aus, dass Sexarbeiter:innen zu diesen Expert*innen gehören werden.
Aber: Zeit für einen Faktencheck.
Ist Deutschland eine „Drehscheibe für Menschenhandel“?
Aus internationaler Perspektive überhaupt nicht. Die Daten, die dies belegen, sind reichlich vorhanden und leicht zugänglich.
Die schrecklichen Erfahrungen der Opfer von Menschenhandel erfordern Genauigkeit in den Gesprächen über ihre Wiedergutmachung. Sexarbeiter:innen lehnen es entschieden ab, dass dieses Thema als politischer Spielball missbraucht wird.
Da politische Konservative oft fälschlicherweise Sexarbeit und Menschenhandel miteinander verwechseln, ist der erste Schritt, die tatsächliche Definition von Menschenhandel gemäß der international anerkannten Autorität, der Vereinten Nationen, festzulegen:
Quelle: United Nations Office on Drugs and Crime https://www.unodc.org/unodc/en/human-trafficking/crime.html
Wie viel Menschenhandel findet tatsächlich in Deutschland statt?
Zunächst eine wichtige Einschränkung:
Paramour Collective wurde gegründet, weil seine Mitglieder bereits in legalen Sexarbeit-Betrieben in Deutschland Ausbeutung erlebt hatten. Die Regierung hat viel Mühe in die Regulierung der Körper der Sexarbeiter:innen selbst gesteckt, aber sehr wenig in die Sicherstellung, dass Ausbeutung nicht in einem legalen Kontext stattfindet. Zum Beispiel ist es in Berlin üblich, dass Bordelle 40-50% des Verdienstes ihrer Arbeiter*innen einbehalten, zusätzlich zu verschiedenen anderen willkürlichen Gebühren. Diese Gebühren übersteigen oft 50% des Verdienstes einer Person, was der Definition von Menschenhandel nach dem Palermo-Protokoll entspricht.[2]Diese Opfer werden in keiner Weise erfasst. Daher haben wir keine Daten darüber, welcher Prozentsatz der Arbeiter*innen in legalen, registrierten Betrieben tatsächlich Opfer von Menschenhandel sind.
Was die Daten betrifft, die wir haben, zeigt das folgende Diagramm die Häufigkeit von Menschenhandel nach Regionen gemäß den jüngsten öffentlich zugänglichen Daten. Es zeigt, dass die Zahl der identifizierten Opfer von Menschenhandel in Mittel- und Südosteuropa im Jahr 2022 im Vergleich zu 2019 zurückgegangen ist.
Daten zeigen, dass Covid-19 (oder wahrscheinlicher die Lockdowns und die daraus resultierende geringere Zugänglichkeit der Opfer für Strafverfolgungsbehörden) enorme negative Auswirkungen auf die Opfer von Menschenhandel hatte. Es gibt wahrscheinlich keine Möglichkeit, den Prozentsatz der nicht erkannten Opfer zu messen. Während diese Tabelle also nicht jeden Fall von Menschenhandel nach Europa widerspiegelt, zeigt sie uns, dass Menschenhandel in Europa im Vergleich zu anderen Teilen der Welt weniger schwerwiegend ist.
Wie steht es innerhalb Europas? Wie schneidet Deutschland ab?
Während die Gesamtzahl der Menschenhandelsopfer, die in Deutschland landen, alarmierend erscheinen mag, ändert sich das, wenn man sie mit der Größe Deutschlands vergleicht.
Hier ist eine Aufschlüsselung der Menschenhandelsopfer als Prozentsatz der Bevölkerung:
Dies zeigt, dass Deutschland tatsächlich auf Platz 23 in Europa liegt, was die Zahl der registrierten Opfer im Verhältnis zu seiner Bevölkerung betrifft.
Wer begeht sexuellen Menschenhandel?
Die Nachrichtenmedien und populären Filme haben zu einem Missverständnis über die wahre Natur des sexuellen Menschenhandels geführt. Viele Menschen nehmen dieses Problem als gleichbedeutend mit der sogenannten „weißen Sklaverei“ wahr, bei der minderjährige, kaukasische europäische Mädchen entführt werden, um gegen ihren Willen zur Prostitution gezwungen zu werden.
In Wirklichkeit äußert die Mehrheit der Opfer von sexuellem Menschenhandel den Wunsch, aus einem wirtschaftlich depressiven Herkunftsland auszuwandern, und wird dann von Schleusern oder Menschenhändlern ausgebeutet, wobei sie in Situationen geraten, die sie sich nicht hätten vorstellen können.
Der (dokumentierte) erzwungene Sexhandel ist oft ein Aspekt des „Geschäftsmodells“ einer internationalen kriminellen Organisation. Anstatt einzelner Entführer ist sexueller Menschenhandel Teil des breiteren Spektrums der organisierten Kriminalität, wie das folgende Diagramm zeigt.
Angesichts dessen ist die nächste logische Frage…
Wie schneidet Deutschland im Kampf gegen Menschenhandel ab?
Der KOK berichtet, dass „Obwohl in den letzten Jahren eine Reihe von Fällen ans Licht gekommen sind, gibt es wahrscheinlich eine beträchtliche Anzahl von nicht gemeldeten Fällen. Die Behörden sind sich dieser Probleme auch weniger bewusst und haben weniger Wissen darüber, worauf sie achten müssen. … Ein dringender Handlungsbedarf bleibt in hohem Maße bestehen.“[4]
Tatsächlich steht Menschenhandel laut dem „Organisierte Kriminalität: Nationale Lagebericht 2023“ des Bundeskriminalamts auf Platz 10 der Liste der Hauptkomponenten der organisierten Kriminalität, die sie 2023 verfolgt haben, und besteht aus nur 8 Fällen. (Man könnte schließen, dass es Raum für Verbesserungen gibt.) Wenn die Koalition plant, die Finanzierung von Beratungsstellen und anderen Organisationen, die neben Strafverfolgungsbehörden im Dienst von Überlebenden des sexuellen Menschenhandels arbeiten, erheblich zu kürzen, wie diejenigen in der Branche befürchten, wird sich die Situation noch verschlimmern.
Wie werden die meisten Opfer von Menschenhandel gefunden?
Laut dem UNDOC ist der Hauptmechanismus zur Erkennung und Rettung weiblicher Opfer von Menschenhandel das Handeln von Strafverfolgungsbehörden (35%):
Andere Einrichtungen, wie vermutlich Probea Berlin und andere Meldeämter, erkennen nur 9% der Fälle von Menschenhandel bei weiblichen Opfern.
Daher ist es berechtigt zu fragen, ob die Regulierung von Sexarbeiter:innen ein nützliches Instrument im Kampf gegen diese Art von Ausbeutung ist.
Ist die Regulierung von Sexarbeiter:innen der beste Weg, um Menschenhandel zu bekämpfen?
Angesichts der wichtigen Rolle der Strafverfolgung bei der Erkennung sowie der Tatsache, dass die Mehrheit der Opfer von sexuellem Menschenhandel Frauen und Mädchen sind (39 % bzw. 22 % – letztere Zahl ist erschreckend), ist der scheinbare Fokus der neuen Regierung auf die Regulierung von Sexarbeiter:innen als Mittel zur Erkennung von Opfern des Menschenhandels absurd.
Wir erwarten, dass das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen, die Organisation, die den Forschungsstudienteil der Überprüfung des Prostituiertenschutzgesetzes durchführt, uns Daten über die Häufigkeit von sexuellem Menschenhandel vor und nach dem ProstSchG liefern wird.[5]Dies sind vielleicht die wichtigsten Daten, die sie sammeln könnten. Wir freuen uns auf die Veröffentlichung ihres Berichts im Juli.
In der Zwischenzeit können wir uns andere Studien ansehen. Laut einer aktuellen EU-Veröffentlichung ist „Menschenhandel ein komplexes kriminelles Phänomen. … Die Komplexität des Menschenhandels erfordert eine umfassende Reaktion… [mit] übergreifenden rechtlichen, politischen und operativen Initiativen zur Bekämpfung des Menschenhandels auf kohärente und umfassende Weise.“[6]Also bitte Scheuklappen ab. Sich nur auf eine Strategie zu konzentrieren, wird das Problem nicht lösen.
Eine Sozialarbeiterin bei Probea Berlin, die Screenings auf Menschenhandel durchführt, berichtete einem Mitglied von Paramour, dass das Büro keine Aufzeichnungen über durch dieses Büro gerettete Opfer von Menschenhandel führt; sie konnte auch nicht mit Sicherheit sagen, ob durch den Prozess der obligatorischen Registrierung für Sexarbeiter:innen Opfer von Menschenhandel erkannt wurden.
Tatsächlich fanden laut dem KOK-Bericht 68,01 % der Ausbeutung von Personen, die ihre Beratungsstellen besuchen (81 % davon sind Opfer von Menschenhandel), im Kontext nicht registrierter sexueller Dienstleistungen statt. Nur 6,03 % dieser Personen waren bei der Regierung als Sexarbeiter:innen registriert. Das bedeutet, dass das Registrierungssystem mit höchstens 32 % der Opfer von Menschenhandel in Kontakt kommt und sie oft nicht als solche identifiziert.
Das ist logisch. Viele Sexarbeiter:innen registrieren sich, damit sie in Bordellen arbeiten können, wo sie mit nur 25 Euro pro Kund*in bezahlt werden. Kein Zuhälter oder Menschenhändler würde das Risiko eingehen, seine Opfer für so geringe Einnahmen zu registrieren.
Die Politik der „Legalisierung und Regulierung von Sexarbeiter:innen“ (aber niemals ihrer Kund*innen) stammt aus dem Mittelalter. Nicht nur das: Es ist tatsächlich fast die gleiche Struktur, die die Nazis verwendet haben, um Sexarbeiter:innen zu regulieren, und später ihre Registrierungslisten verwendet haben, um Sexarbeiter:innen als „asozial“ zu deportieren.[7]Daher wissen wir, dass die politische Taktik der Überregulierung der Körper von Sexarbeiter:innen nichts weiter als ein staatliches Feigenblatt ist, um die Öffentlichkeit zu beruhigen, dass „etwas gegen sexuellen Menschenhandel unternommen wird“ (und im Subtext, gegen unmoralische, übermäßig promiske, laute und anderweitig unbequeme, nicht konforme Frauen).
Wir empfehlen der neuen Regierung, ihren Fokus auf eine strafrechtliche Verfolgung der kriminellen Banden zu legen, die sowohl legale als auch illegale Sexarbeit- und Menschenhandelsgeschäfte in den meisten deutschen Städten betreiben. Ein Land, in dem eine große Anzahl von Sexarbeiter:innen unter der Kontrolle der Hells Angels steht, kann nicht ernsthaft behaupten, ein „Prostituiertenschutzgesetz“ zu haben. Ebenso wenig wie ein Land, in dem den meisten „geretteten“ Opfern von sexuellem Menschenhandel im Prozess ihre Menschenrechte verletzt werden.[9]
Tatsächlich kann man sich keinen anderen Kontext vorstellen, in dem es toleriert würde, potenzielle Opfer durch deren Regulierung zu „schützen“. Es ist das Äquivalent dazu, Vergewaltigungen zu verhindern, indem kurze Röcke verboten werden.
Damit eine brandneue Regierungskoalition ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen kann, ist es am besten, wenn ihr Koalitionsvertrag faktisch korrekt ist. Sexarbeiter:innen werden es nicht tolerieren, dass ihr Recht auf Selbstbestimmung in ihren Berufen (wie im deutschen Grundgesetz garantiert) aufgrund schlechter Daten eingeschränkt wird. Tatsächlich haben wir solche Ungerechtigkeiten viel zu lange ertragen.
[1]Eine traurige Art, die 5 % der Opfer von sexuellem Menschenhandel zu behandeln, die männlich oder trans sind. („Bundeslagebild Menschenhandel“, aktuelle Ausgaben (2021, 2022).
[2]Ein EU-Dokument zur Bekämpfung von Menschenhandel. https://home-affairs.ec.europa.eu/networks/european-migration-network-emn/emn-asylum-and-migration-glossary/glossary/palermo-protocol_en
[3]„Governance“ und „business“ beziehen sich auf zwei verschiedene Arten von kriminellen Organisationen (es hat nichts mit der Regierung zu tun).
[4]“2024 KOK Report: Data Collection in the Context of Trafficking in Human Beings and Exploitation in Germany,” https://www.kok-gegen-menschenhandel.de/fileadmin/user_upload/medien/Publikationen_KOK/KOK_Datenbericht_2024_e_Broschur_web_2.pdf
[5]Eine solche Bewertung sollte jedoch nur Daten vor Covid-19 berücksichtigen, da die Pandemie, herzzerreißend, das globale Ausmaß des Menschenhandels stark erhöht und die Erkennung von Opfern verringert hat.
[6]„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die EU-Strategie zur Bekämpfung des Menschenhandels 2021-2025.“
[7]„With Legs Wide Open: A Whore’s Walk Through History“ Museumsausstellung, Schwules Museum, April-November 2024.
[9]„Von Menschenhandel und Ausbeutung betroffene Personen haben bestimmte Rechte. Viele dieser Rechte und Leistungen sind jedoch vom Aufenthaltsstatus abhängig.“ “2024 KOK Report: Data Collective in the Context of Trafficking in Human Beings and Exploitation in Germany,” German NGO Network against Trafficking in Human Beings (KOK). For a prime example, see Janjevik, Darko, “German Police Launch Prostitution Raids,” DW, 18.4.2018. https://www.dw.com/en/german-police-launch-crackdown-on-human-trafficking-organized-crime/a-43430180