Eine Orgie für zwei
X und ich lernten uns während einer erotischen Massage kennen. Aufgeladen mit einer seltenen, starken Chemie, die so ein Treffen zu einem spielerischen Meisterwerk erotischen Austauschs machen kann, war es definitiv ein unvergessliches Zusammentreffen. Als wir in den Armen des:der anderen lagen und die Welle von X’s Orgasmus langsam abebbte, wurde das Gespräch schnell komplex, philosophisch, zutiefst persönlich und verletzlich. Irgendetwas passte einfach. Eine wunderbare Verbindung, basierend auf ähnlichen Neugierden, Weltanschauungen und Schamlosigkeit, wurde entdeckt und gepflegt.
Monate vergingen und die Massagen gingen langsam in längere Brunch- und Hoteltermine über. Das Vertrauen zwischen uns wuchs und in einem der seltenen Fälle von Kunden:innen-Begleiter:innen-Beziehungen entstand eine Art Freundschaft. Jedes Treffen fühlte sich zu kurz an, es gab so viel zu besprechen! Wir unterhielten uns über alles rund um Sex, die sex-positive Szene in Berlin und wie man gleichgesinnte, sexuell neugierige und selbstbewusste Spielpartner:innen findet. Für X würde ein Dating-Profil erstellt werden, dachten wir, etwas, das den Horizont erweitert, mit wem sie:er in dieser Phase der inneren Entdeckung und Veränderung in Kontakt kam. Glücklicherweise für X gehört Porträtfotografie zu meinen Fähigkeiten und ich konnte die passenden Bilder für ein persönliches Profil erstellen.
Schließlich fanden wir einen Tag, an dem wir gemeinsam sexy, lustige und selbstbewusste Bilder von X machen würden. Und so erschien ich zum ersten Mal zu einem Begleiter:innen-Termin – voll ausgestattet mit allerlei Beleuchtung, Kameraausrüstung, Requisiten und Bildern im Kopf. Dieser Moment fühlte sich so besonders an, da ich monatelang damit gekämpft hatte, Raum für diese beiden scheinbar getrennten Welten – erotische Arbeit und Fotografie – zu schaffen. Für ein paar Stunden hielten wir einen Raum, in dem mein kreatives, erotisches und verspieltes Ich als vollständig integrierte Selbst auftreten konnte. Wie einfach und freudvoll das war. So kraftvoll und lustig, so viele Leidenschaften und Ausdrucksformen in einem Moment zu verkörpern.
Und so verging die Zeit und während wir vom Hotelzimmer ins Fitnessstudio, zum Pool, ins Restaurant und zurück ins Schlafzimmer wechselten, fühlte es sich an, als wären wir eine Entourage verschiedener Ichs, die in unterschiedlichen Outfits und Kostümen durch die Hotelflure liefen. X’s dominantes Ich, sportliches Ich, attraktives Business-Ich – alle hatten ihren Moment im Rampenlicht, mal zutiefst selbstbewusst, mal verletzlich und nervös angesichts der Kamera. Mein Huren-Ich, Fotografen-Ich, Liebhaber:innen-Ich und all die Archetypen, die damit verbunden sind, führten den Weg. Unsere beiden Körper platzten fast vor der Vielfalt der Ausdrucksformen, für die wir in uns und füreinander Raum hielten. Es fühlte sich wirklich an wie eine Orgie für zwei.
Als ich in den folgenden Tagen das Shooting bearbeitete, war ich erfüllt von großer Dankbarkeit für das Vertrauen, das X mir entgegenbrachte, um diese Bilder zu erschaffen. Als Person, die bis dahin kaum oder keine Erfahrung als Mittelpunkt eines Fotoshootings hatte, waren die entstandenen Bilder selbstbewusst, sexy und verspielt. Atemberaubende Porträts, die viele Aspekte ihres:seines Wesens einfingen, und ich war stolz auf den sicheren Raum, den ich geschaffen hatte, damit sie:er sich in diesem sehr verletzlichen Kontext wohlfühlte. Ich war auch stolz darauf, wie ich nicht nur als erotische Dienstleister:in, sondern auch als Fotograf:in brilliert hatte.
Ich fragte mich, ob das, was ich fühlte, dem ähnelte, was Kund:innen empfinden, wenn wir Raum dafür schaffen, dass sie mit all den Teilen von sich auftreten können, die sie zeigen und denen sie Aufmerksamkeit schenken möchten während eines Termins. Wie viele Kund:innen berichten, sind Sitzungen mit Sexarbeiter:innen oft ein heiliger Moment, um alle Teile von sich in einem Raum kostbarer Verletzlichkeit zusammenzubringen. Das neugierige Ich, das geile Ich, das mutige Ich, das ängstliche Ich, das freche Ich und oft das verletzte Ich, das danach strebt, Schmerz oder Ablehnung in Akzeptanz und Freude zu verwandeln. Termine mit Sexarbeiter:innen können besondere Begegnungen sein, in denen der unterschwellige Druck klassischer Dating-Dynamiken, sich einem potenziellen Partner:in „zu verkaufen“, für ein paar Stunden verschoben und beiseitegelegt wird. Das soll nicht heißen, dass ich nicht viele von euch sehe, die ihr Bestes geben und mich beeindrucken wollen! Aber die klare Dynamik zwischen Dienstleister:in und Kund:in fühlt sich oft eher wie eine Coach-Klient:innen-Beziehung an, könnte man sagen. Rohe und schmerzhafte Geschichten kommen schnell zum Vorschein – Traumata und tiefe Sehnsüchte, in verletzlichen Momenten des Selbstausdrucks gesehen zu werden, tauchen auf, was mit einem neuen Partner:in vielleicht Monate (oder Jahre) gebraucht hätte, wenn überhaupt.
Dieses Phänomen überrascht mich und doch nicht. Kund:innen haben nichts zu verlieren, wenn sie die Maske des „glücklichen, geheilen, starken“ Ichs ablegen, während sie in den Armen einer Sexarbeiter:in liegen. Das Ego kann ruhen. Liegt es an einem unbewussten kulturellen Narrativ, das die Hure als Vagabundin – auch als ‚Andere‘, außerhalb der Norm – positioniert, wodurch sich diejenigen, die sich anders oder abgelehnt fühlen, mit einem verwandten Geist verbinden? Vielleicht. Ich glaube, es hat mehr mit der enormen emotionalen Sensibilität, Empathie und emotionalen Intelligenz zu tun, die viele Sexarbeiter:innen besitzen. Was auch immer der Grund ist, ich schätze diese Momente sehr und bewahre sie mit großer Zärtlichkeit. Sie geben auch mir Raum, verschiedene Seiten von mir zu zeigen – jenseits des Archetyps der Verführerin oder Verführungskünstlerin, den viele vielleicht zunächst in einem Termin suchen.