Ist es Betrug, eine:n Escort zu sehen?
Der Unterschied zwischen Moral und Ethik
Ich arbeite tagsüber als Historikerin der Sexarbeit, und es ist erstaunlich, wie konsistent die heutige Sexarbeiterschaft mit unseren Vorgängerinnen durch die Jahrhunderte ist. Ein immerwährendes Merkmal von Sexarbeitern ist die Ablehnung der vorherrschenden Moral ihrer Zeit, weil sie unsere Menschlichkeit, unseren Wert und unsere Rechtschaffenheit leugnet.
Für mich gibt es einen klaren Unterschied zwischen Moral und Ethik.
Moral bezieht sich auf eine Schwarz-Weiß-Sicht der Realität, die von einer zentralen, machtvollen Instanz einer Gesellschaft definiert wird – mit klaren Richtlinien darüber, was richtig und falsch ist, ohne Raum für Zwischentöne.
Beispiel: Die christliche Kirche definiert Lust als Sünde. Wer Lust empfindet, stellt sich auf die Seite des Bösen und landet in der Hölle.
Ethik hingegen betrifft den inneren Kompass – die persönlichen Überzeugungen darüber, wie man sich in der Welt bewegt. Die bekannteste Beschreibung dafür ist die Goldene Regel: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest.“
Beispiel: Wir empfinden keine Lust gegenüber Kindern, weil es uns als Kindern geschadet hätte, begehrt zu werden. Aber wir empfinden Lust gegenüber unseren Partner:innen, die sich dadurch gewollt und geliebt fühlen.
Persönlich richtet sich mein ethischer Kompass danach, ob eine Handlung emotionalen oder körperlichen Schaden verursacht. Institutionen können keinen Schmerz fühlen. Das amerikanische Recht aber drückt uns eine moralische Wertvorstellung auf: Sexarbeit sei falsch. Das widerspricht meinem Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Autonomie. Da der Akt, sexuelle Dienstleistungen gegen Geld zu tauschen, an sich niemandem schadet (und mir sicherlich nicht, solange ich Psychos meide), verstieß das Brechen dieses Gesetzes nicht gegen meine Ethik.
Aus dem religiösen Kontext, in dem ich mich bewege, bin ich froh, dass wir heute in einer Welt leben, in der Menschen andere nicht mehr mit der moralischen Rechtfertigung der biblischen Geschichte von Ham versklaven können – und queere Menschen den Mut haben, zu sagen, dass Levitikus Blödsinn ist.
Gleichzeitig leben wir in einer Welt, in der immer mehr Gesetze in Kraft treten, die viele von uns als unethisch ansehen. Da der Faschismus auf dem Vormarsch ist, ist es wichtiger denn je, alle Gesetze und moralischen Vorschriften an unserem eigenen ethischen Code zu messen, anstatt einfach mitzulaufen und das Beste zu hoffen. Wir alle wissen, wie das in der Vergangenheit ausgegangen ist – besonders in Deutschland.
Natürlich ist das Quälende daran, ein nicht-psychopathischer Mensch zu sein, dass unsere Handlungen unvorhergesehene Auswirkungen haben.
Aktivist:innen für Sexarbeiterrechte weisen oft darauf hin, dass einige der lautesten Gegner:innen unseres Rechts auf sichere und legale Arbeit (sogenannte „Anti-Trafficking“-Aktivist:innen) Frauen sind, deren Ehemänner sie mit Escorts betrogen haben. Kürzlich erhielt ich meine erste E-Mail einer wütenden Ehefrau. Ich denke, es ist fair zu sagen, dass niemand von uns Freude daran hat, sich vorzustellen, dass unsere Klienten – viele davon in monogamen Ehen – ihre Frauen betrügen und ihnen möglicherweise Schmerz zufügen.
Aus moralischer Sicht ist die Sache klar: Ehebruch ist falsch. Ab in die Hölle (oder bereue oder was auch immer). Ende der Diskussion.
Aber bedenkt: Viele Sexarbeiter:innen haben selbst den Schmerz erlebt, betrogen worden zu sein (ich eingeschlossen – und ausgerechnet vom ersten Mann, mit dem ich mit 16 Geschlechtsverkehr hatte! Arschloch!). Ehrlich, gibt es überhaupt jemanden, der noch nie betrogen wurde? Dieser Schmerz ist nicht weniger real, nur weil er so häufig ist. Und Sexarbeiter:innen verstehen das, glaubt mir bitte.
Ethisch betrachtet ist Betrügen jedoch nicht so schwarz-weiß.
Bevor wir weitermachen: Wenn du in einer monogamen Beziehung betrogen wurdest und das sehr schmerzhaft war, könnte der obige Satz schrecklich klingen. Ich will deinen Schmerz nicht kleinreden. Ich will Betrüger nicht entschuldigen. Sie haben dir wehgetan, und in meinem Buch ist das unethisch.
Aber vielleicht folgst du mir trotzdem einen Moment.
Erstens: Intimität ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis für fast alle. Wie viele andere habe ich während der Pandemie fünf Monate lang keinen anderen Menschen berührt – und das hat mich ein bisschen verrückt gemacht. Die ständige Angst in meinem Körper war spürbar und extrem unangenehm, was meine psychische Gesundheit beeinträchtigte. Menschen haben sich in Stämmen entwickelt. Homo sapiens sind biologisch darauf programmiert, Berührung zu brauchen, um sicherzustellen, dass wir nicht allein auf der Savanne einer marodierenden Löwin ausgeliefert sind. Ebenso ist Lust für die meisten Menschen eine biologische Funktion, die das Überleben der Art sichern soll. Wenn wir also darüber reden, dass Menschen Sex brauchen, macht sie das nicht böse, schmutzig oder unfähig zur Selbstkontrolle – es bedeutet einfach, dass sie ein biologisches Programm ausleben. Für die meisten ist sexuelle Enthaltsamkeit eine große Sache und kann sogar emotional zermürbend sein. Je höher die Libido – und je mehr Testosteron im Spiel ist –, desto schwerer fällt es, ganz oder teilweise auf Sex zu verzichten. (Siehe „zölibatäre“ Priester…) Unsere Spezies ist nicht dafür gemacht.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf…
Beispiel #1: Das klassische Klienten-Dilemma
Mein liebster US-Klient erzählte mir eine häufige Geschichte (und ja, ich hörte nur seine Seite – aber urteilt nicht vorschnell): Seine Frau kam in die Menopause, und hormonelle Veränderungen töteten ihre Libido. Sie sagte ihm, sie würden nie wieder Sex haben – dieser Teil ihrer Beziehung sei vorbei. Da er immer noch Lust verspürte, kämpfte er damit, und dieser Kampf mündete schließlich in eine Depression. Um seinem moralischen Versprechen der Monogamie treu zu bleiben, begann er, Antidepressiva zu nehmen – sowohl gegen seine Gefühle von Einsamkeit (trotz einer starken emotionalen Bindung zu seiner Frau) als auch wegen der Nebenwirkung, die Libido zu dämpfen. Nach einer Weile in diesem Zustand suchte er eine Escort auf. Das veränderte seine Welt. Seine Störung verschwand, seine Einsamkeit wurde gelindert. Ein Termin pro Monat, und er konnte nicht nur sein Leben mehr genießen, sondern auch als ausgeglichener Mensch für seine Kinder, Enkel, Kollegen und seine Frau da sein. Aus Dankbarkeit für diese Verbesserung überschüttete er mich mit Trinkgeldern und Geschenken (meist Bücher, von denen er dachte, sie würden mir gefallen).
Stellt euch stattdessen vor:
Er beginnt eine Affäre mit jemandem, den er (oder vielleicht auch seine Frau) kennt. Die Beziehung verläuft gut – oder geht schief. In jedem Fall erhöhen die emotionalen Verstrickungen und die Tatsache, dass es sich um jemanden aus seinem Umfeld handelt (keine professionelle Begleitung mit klaren Grenzen), die Wahrscheinlichkeit, dass seine Frau es herausfindet – was seine Ehe zerstören könnte, mit allen möglichen Konsequenzen.
Beispiel #2 – Ein sehr überzeugender Grund, eine Escort zu buchen:
Ein älterer Klient erzählte mir, wie er der alleinige Pfleger seiner Frau ist, die an fortgeschrittener Alzheimer leidet und ihn nicht mehr erkennt. Moralisch hatte er geschworen, ihr ein Leben lang treu zu sein. Doch kurz vor ihrem Lebensende war er emotional am Ende – er gab viel Pflege, ohne etwas zurückzubekommen. Ich konnte einen Teil dieser Leere füllen, sodass er mit erneuerten Kräften für ihre letzten Tage zu ihr zurückkehren konnte.
Das sprengt doch sicher eure binäre Treuevorstellung, oder?
Was sagt die Wissenschaft?
Falls euch dieses Thema interessiert, lest Sex at Dawn. Es ist eine anthropologische Untersuchung der Geschichte der Monogamie. Das Buch erklärt, warum Monogamie sich für viele Menschen unnatürlich anfühlt, und beschreibt unsere nächsten tierischen Verwandten, die Bonobos. Bonobos sind nicht nur polyamorös und ziehen alle Jungtiere gemeinsam auf (unabhängig von der Vaterschaft), sondern nutzen (homo- und heterosexuellen) Sex auch als Werkzeug, um soziale Bindungen zu stärken und Konflikte zu lösen.
Die Autoren gehen auch der Frage nach: Wenn wir biologisch nicht für Monogamie programmiert sind (außer vielleicht meine Eltern), warum ist sie dann unsere Norm? Sie führen das auf die Anfänge der Landwirtschaft und die Erfindung von Eigentum als Rechtskonzept zurück: In einer Jäger-und-Sammler-Gesellschaft ist es eine Sache, Kinder gemeinsam großzuziehen – aber in einer Agrargesellschaft, wo das Überleben von einem Stück Land abhängt, muss klar sein, wer die legitimen Erben sind. Hier kommt das Christentum mit einem Moralcodex, der Ehebruch verbietet – nicht als ewige Wahrheit, sondern als sozialer Kitt für ein kapitalistisches System, das Privateigentum schützt.
Wenn es natürlich ist, warum tut Betrug dann so weh?
Oh, ich habe jahrelang mit diesem Dämon gekämpft – und tue es immer noch. Mein letzter amerikanischer Liebhaber wollte unsere Beziehung öffnen, und ich stimmte zu. Obwohl das völlig mit meiner Ethik vereinbar war, quälte es mich, wenn er mit anderen Frauen zusammen war. Ich hatte Sex at Dawn gelesen, war in moderner linker Kultur verwurzelt – und vor allem war ich mir seiner Liebe sicher. Trotzdem tat es weh. Also begann ich zu ergründen, warum.
Die Antwort? Natürlich tut es weh! Wir sind mit Liebesliedern, Rom-Coms und christlicher Moral aufgewachsen. Wir wurden buchstäblich darauf konditioniert, Schmerz zu empfinden, selbst wenn wir wissen, dass er unnötig ist und unserem Weltbild widerspricht. Unser ganzes Leben lang hat uns alles eingetrichtert: Wenn unser:e Geliebte:r mit jemand anderem intim ist, hat das eine feststehende Bedeutung – sie/er liebt uns nicht wirklich. Die konditionierte emotionale Reaktion ist Ablehnung.
Können wir das umtrainieren? Mein jetziger Partner sagte früh, dass er nach einer langen, unglücklichen Ehe die Freiheit braucht, mehrere Partner:innen zu haben – für sein Glück und seine emotionale Gesundheit. Wenn er mit seiner anderen Liebhaberin zusammen ist, erwische ich mich manchmal noch dabei, wie Traurigkeit aufkommt. Doch dann erinnere ich mich daran, warum ich zugestimmt habe:
Meine Definition von Liebe ist, dass man will, dass der andere glücklich ist.
Und ich bin froh zu berichten: Je mehr ich übe, desto leichter fällt es. (Ein guter Therapeut und unterstützende Freund:innen helfen auch. Ganz zu schweigen von einem gut gebauten Fuckbuddy.)
Fazit…
Ist es also Betrug, eine Escort zu buchen?
Erstens: Ich fühle mich ethisch nicht verantwortlich für die Treueentscheidungen meiner Klienten. Frauen wurden schon viel zu lange für das Verhalten von Männern verantwortlich gemacht. Wenn du deine Partnerin betrügst, liegt das nicht daran, dass ich dich verführt habe. Und woher soll ich überhaupt wissen, ob du in einer Beziehung bist? Soll ich mein Einkommen schmälern, indem ich Fragebögen verteile und Klienten verschrecke? Lächerlich. Das ist nicht meine Verantwortung.
Ich weiß in meinem Herzen, dass meine Arbeit der Welt mehr Freude als Schmerz bringt – nicht weil ich etwas verdränge, sondern weil ich es sehe. Haben wir nicht alle schon jemanden gesehen, der rücksichtslos durch die Straßen stolpert, und gedacht: „Mann, der/die müsste mal wieder Sex haben“?
Dan Savage prägte den Satz: „Tu, was du tun musst, um verheiratet und bei Verstand zu bleiben.“ Ist jedes Verhalten immer ideal? Sicher nicht. Beziehungen sind wahrscheinlich das Schwierigste im Leben. Aber die Welt ist nicht schwarz-weiß. Sexarbeiter:innen haben das immer verstanden – und wir schämen uns nicht, dass wir schon immer außerhalb moralischer Grenzen agieren mussten, um zu überleben. Denn scheiß auf eure Regeln, wenn sie bedeuten, dass ich mich und mein Kind nicht ernähren kann. Also: Scheiß auch auf soziale Konstrukte, die Menschen ohne Grund unglücklich machen – nur damit Patriarchen ihren Kick bekommen.
Meine Antwort lautet daher:
Nein, eine Escort zu buchen ist kein Betrug.
Es ist 2025. Wir haben Optionen – von radikaler Polyamorie über offene Ehen, „Don’t ask, don’t tell“-Arrangements, diskrete Bedürfnisbefriedigung mit verantwortungsvollen Profis bis hin zu Monogamie. Mein Wunsch ist, dass alle die Möglichkeit – und den Mut – haben, das von ihrem Partner einzufordern, was sie brauchen.
Am Ende läuft es auf eins hinaus:
Seid kein Arschloch.
Empfohlene Lektüre:
- Ryan, Christopher & Jethá, Cacilda. Sex at Dawn: The Prehistoric Origins of Modern Sexuality. Harper Collins (2010).
- Fern, Jessica, Rickert, Eve & Samaran, Nora. Polysecure: Attachment, Trauma and Consensual Nonmonogamy. Thorntree Press (2020).